Staatlichkeit als organisiertes politisches Herrschaftsverhältnis (Anti-)Politik und der kommunistische Anarchismus (Teil 1)

Politik

Dieser Beitrag wurde zuerst am 6.8.2022 auf anarchismus.de veröffentlicht.

Anarchosyndikalismus in Berlin.
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Anarchosyndikalismus in Berlin. Foto: Lewak (PD)

11. August 2022
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Es handelt sich um einen Gastbeitrag, weil ich eine andere Position und Perspektive als die Personen hinter der Seite habe. Dennoch betrachte ich es als meine Aufgabe, mein erworbenes Wissen und Denken weiter zu geben, um anarchistische Positionen zu unterfüttern und zu debattieren.

Als ich vor inzwischen fünf Jahren beschlossen habe, mich umfassend der politischen Theorie des Anarchismus zu widmen, erschien es mir naheliegend, die Grundbegriffen dieser pluralistischen sozialistischen Strömung zu erforschen. Denn im Anarchismus gibt es ein eigenständiges theoretisches Denken, welches unbedingt mit der anarchistischen Ethik und ihren Lebensformen sowie anarchistischen Organisationsvorstellungen im Zusammenhang zu denken ist.

Deswegen habe ich mir die Fragen gestellt: Was verstehen Anarchist:innen eigentlich unter „Politik“? Wie verhalten sich Anarchist:innen gegenüber „Politik“? Und: Kann es eine anarchistische „Politik“ geben und was wären ihre Kriterien? Mit dem Arbeitsbegriff (Anti-)Politik wird ausgedrückt, dass es sich um ein durch die bestehende Herrschaftsordnung bedingtes Spannungsfeld handelt, in welchem Anarchist:innen immer im Widerspruch handeln.

Staatlichkeit als organisiertes politisches Herrschaftsverhältnis

Auffällig ist, dass es in allen anarchistischen Strömungen eine grundlegende Kritik am Politikmachen gibt. Diese bezieht sich auf die Regierungspolitik, die staatliche Bürokratie, den Parlamentarismus und das Parteiensystem. Sie bezieht sich aber auch auf die politische Logik und Organisationsweise in einem weiteren Sinne. Denn das, was wir gemeinhin unter „Politik“ verstehen und mit ihr assoziieren ist kein neutrales Terrain.

Vielmehr werden die Aktivitäten tendenziell autonomer und selbstorganisierter sozialer Bewegungen häufig dem Staat zugeordnet und oftmals von diesem vereinnahmt. „Politik“ gestaltet sich in liberal-demokratischen Gesellschaftsformen als politische Herrschaft. Das bedeutet, dass sich Staatlichkeit als Herrschaftsverhältnis zwischen Regierenden und Regierten herausbildete und dieses in potenziell alle gesellschaftlichen Bereiche hineingetragen wird.

In der Logik des Staates liegt es, alle gesellschaftlichen Bereiche zu regulieren, zu kontrollieren, zu sanktionieren und zu erfassen. Wenn durch ihn eine „Privatsphäre“ konstruiert wird, dann ist diese ebenso wenig an sich von staatlicher Herrschaft ausgenommen, wie „die“ Wirtschaft nicht wirklich getrennt vom Staat gedacht werden kann und „Freizeit“, die Kehrseite von Lohnarbeit darstellt. Staatlichkeit kann analog zum Kapitalismus, dem ökonomischen Herrschaftsverhältnis, dem Patriarchat in den Geschlechterverhältnissen und dem Anthropozentrismus im gesellschaftlichen Naturverhältnis gedacht werden.

Als Herrschaftsverhältnis reicht sie potenziell in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein, aber sie ist nicht total. Neben ihr bestehen unterdrückte und verdrängte Formen, wie Menschen sich organisieren können. Dies tun sie auch, wenn Staatlichkeit das dominierende politische Herrschaftsverhältnis ist.

Auf die meisten Aktivitäten, welche sich auf der politischen Ebene abspielen, beansprucht der Staat ein Monopol oder will sie zumindest kontrollieren und regulieren. Umgekehrt ist auch so, dass die meisten Menschen, wenn sie an „Politik“ denken, diese sehr schnell mit staatlichen Strukturen und Logik assoziieren – denn ihr Bewusstsein ist durch die Ideologie der bestehenden Herrschaftsordnung geformt.

Radikale Demokratie oder Skepsis gegenüber der Politik?

Wenn Anarchist:innen die Verstaatlichung von Politik ablehnen, bestünde eine Möglichkeit darin, ihr eine Art selbstorganisierte und autonome Politik „von unten“ entgegenzusetzen. Eine „radikale Demokratie“ oder „Basisdemokratie“ soll der staatlichen Herrschaft entgegengestellt werden, welche sich mit Perspektive zu Unrecht als „demokratisch“ ausgibt. Wenn man so will, geht es bei diesen Ansätzen darum, den Begriff „Politik“ zurückzuerobern und damit auch umzudefinieren.

Offensichtlich beschäftigen sich viele Anarchist:innen immer wieder mit dem, was in „der“ Politik los ist und versuchen auch in sie zu intervenieren. Dies geschieht, wenn sie Kundgebungen anmelden, sich an Demos beteiligen, möglicherweise in Vereinen aktiv sind, vielleicht auch mit Politiker:innen reden oder sich mit Politik beschäftigen, um sie kritisieren und delegitimieren zu können.

Auch wenn es für diese radikal-demokratische Ansicht einige Argumente gibt und damit auch die Frage verbunden ist, welche Ansatzpunkte für die Organisation einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform bestehen, habe ich mich dafür entschieden, einen anderen Politikbegriff zu verwenden. Diesen habe ich als (ultra-)realistisch, gouvernemental und konfliktorientiert beschrieben.

Damit will ich ausdrücken, dass es auf dem politischen Feld immer um Machtkämpfe geht und die daran Beteiligten über äusserst ungleiche Machtressourcen verfügen. Das heisst, wie schon gesagt, dass Politik in der bestehenden Herrschaftsordnung nie neutral ist. Vielmehr sind ihre Bedingungen bereits durch politische Herrschaft geprägt.

Mit anderen Worten: In der Politik, wie sie uns heute erscheint, gibt es für anarchistische Positionen wenige bis fast gar keine Spielräume. Bringen sie sozial-revolutionäre Bestrebungen in sie ein, werden diese ausgegrenzt und dämonisiert. Versuchen Anarchist:innen pragmatisch auf graduelle Verbesserungen hinzuwirken, werden sie ignoriert oder eingehegt.

Diese Effekte sollten nicht unterschätzt werden, wie es zahlreiche Linke tun, welche die hundertste politische Sekte gründen, sich trotz ihres Unbehagens politischen Parteien anschliessen oder an der Politik verzweifeln und z.B. nur noch kulturell oder mit ihrem persönlichen Lebensstil wirksam sein wollen. Aus anarchistischer Perspektive lohnt es sich, dem Politikmachen gegenüber fortwährend skeptisch zu bleiben.

Gründe für das Unbehagen mit der Politik

Übrigens war es unter anderem auch der Streit um den Politikbegriff selbst, an welchem sich der Anarchismus als eigenständige Strömung herausbildete. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die sozialistische Graswurzelbewegung politisiert. Das geschah erstens durch die Vereinnahmung ihrer Forderungen, indem eine staatliche Sozialpolitik hervorgebracht wurde. Zweitens wollten sozialdemokratische und kommunistische Parteipolitiker:innen ihre eigenen Führungsansprüche und Herrschaftsbestrebungen durch politische Reformen oder politische Revolutionen durchsetzen.

Drittens wurden selbstorganisierte, autonome Bewegungen und selbstverwalteten Gebieten im Zuge der Durchsetzung des modernen Nationalstaates von brutaler Repression überzogen. Deswegen nahmen sie Organisationsformen an, welche in der bürgerlichen Herrschaftsordnung legalisiert waren und dieser also zugeordnet wurden. Anarchist:innen wehrten sich gegen diese Politisierung des Sozialismus, indem sie die Organisationsprinzipien von Autonomie, Dezentralität, Föderalismus und Freiwilligkeit betonten und mit einer sozialen Revolution auf eine umfassende Gesellschaftsveränderung hinwirken wollten.

Neben den historischen, gibt es auch weitere Gründe, warum es dem Politikmachen aus anarchistischer Perspektive gegenüber skeptisch zu sein gilt. Dies betrifft die bereits erwähnte Feststellung, dass tendenziell selbstorganisierte autonome soziale Bewegungen immer wieder von staatlicher Politik vereinnahmt oder ihr zugeordnet werden. Dies kann z.B. auch bei Fridays for Future gesehen werden: Obwohl FFF als Bewegung relativ erfolgreich war, gab es in ihr Bestrebungen eigene Parteien zu gründen, sich als Vorhutorganisation der Grünen zu verstehen und permanent an die politischen Machthaber:innen zu appellieren.

Auch zahlreiche Linke formulieren immer wieder Forderungen an „die“ Politik, obwohl sie gar nicht über die Machtbasis verfügen, um diese durchzusetzen. Wir kennen dies von Demos, wo die Teilnehmenden schon das Gefühl haben, einen Beitrag für die Emanzipation getan zu haben, wenn sie mit anderen durch die Strassen laufen. Eine Demo ist sinnvoll, wenn sich bei ihr ähnlich gesinnte Menschen begegnen, austauschen, gemeinsam stark fühlen, andere überzeugen oder in die Konfrontation gehen können. Sie erzeugt aber für sich selbst genommen keinen ernstzunehmenden Druck für die Machthabenden.

Ein pluralistischer Anarchismus

Innerhalb des Anarchismus gibt es sehr verschiedene Traditionen, Perspektiven, Standpunkte, Erfahrungen und Praktiken. Deswegen bestehen unter Anarchist:innen anhaltende und tiefgreifende Kontroversen und Streits. Viele Positionen von Menschen, die sich als Anarchist:in bezeichnen, mögen andere Anarchist:innen nerven oder sogar provozieren.

Da es mit ihnen um etwas geht, sollte auch nicht so getan werden, als wenn alle Ansichten gleichberechtigt nebeneinander stehen könnten. Denn dann bleiben sie beliebige Meinungen, was nicht ausreicht, um grundlegende Gesellschaftskritik zu üben und funktionierende Alternativen aufzubauen.

Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass der Anarchismus pluralistisch ist. Dies darf und sollte er auch sein, denn würde der Anarchismus durch politische Führung homogenisiert und zentralisiert werden, wäre er letztendlich nur eine politische Strömung unter anderen. Doch der Anarchismus unterscheidet sich qualitativ von anderen sozialistischen und auch linksradikalen Ansätzen. Und dieser Unterschied kommt wiederum im Verständnis von Politik zum Ausdruck.

Individualanarchist:innen kritisieren politische Herrschaft vorrangig, weil mit ihr die Selbstbestimmung von Einzelnen eingeschränkt wird, welche sie dieser entgegensetzen. Die Bedürfnisse und Wünsche von Einzelnen können nur durch sie selbst definiert werden. Sie wollen mit ihren Interessen von niemandem repräsentiert werden. Mutualistische Ansätze zielen auf die Selbstorganisation z.B. von Stadtvierteln, regionalen Wirtschaftskreisläufen, Mietshäusern usw. ab und treten für Genossenschaften und Kollektivbetriebe ein.

Im Anarch@-Syndikalismus wird der Politik ganz klar die Organisation und der Kampf in der ökonomischen Sphäre entgegengesetzt. Statt politische Reformen über den Staat zu erreichen, geht es darum, Interessen direkt gegenüber den Kapitaleignern durchzusetzen und mit den Syndikaten die organisatorische Grundlage für die Selbstverwaltung einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform zu legen. Im kommunitären Anarchismus geht es darum, sich mit ähnlich Gesinnten das Leben zu teilen und – jenseits von Politik – in Alternativszenen oder Kommuneprojekten die kommende Gesellschaft experimentell vorwegzunehmen.

Dagegen wird im anarchistischen Insurrektionalismus davon ausgegangen, dass Anarchist:innen keinerlei Visionen hervorbringen sollten. Vielmehr müsse jegliche Ausprägung von Herrschaft permanent weiter angegriffen werden, ohne dass es dafür „politischer“ Alternativerzählungen brauche. Die insurrektionalistische Tendenz ist gewissermassen als Negativfolie des kommunistischen Anarchismus entstanden. Sie entwickelte sich meiner Interpretation nach aufgrund der Erfahrung des Scheiterns anarchistischer Ansprüche, der Desillusionierung über das Ausbleiben der sozialen Revolution und der brutalen Repression libertär-sozialistischer Bewegungen.

Die Traditionen, Perspektiven und Praktiken der verschiedenen anarchistischen Tendenzen sind zunächst für sich genommen interessant. Ihre Kategorisierung sollten wir nicht zu eng sehen, denn in anarchistischen Szenen vermischen sie sich in unterschiedlichen Ausprägungen. Das ist nicht schlimm, sondern kann sehr bereichernd sein.

So verschieden Anarchist:innen sind und denken, haben sie doch eine Gemeinsamkeit in ihrem Politikverständnis. Und dies führt zum Streben nach Autonomie, das heisst zur Ablehnung von Herrschaft bei gleichzeitiger Verwirklichung von egalitären, libertären und solidarischen Beziehungen und Institutionen.

Jonathan